Der erste „schwarze Schwan“, die Pandemie als unvorhersehbares Ausreißerereignis, hatte den 60. Geburtstag des Salone del Mobile noch verzögert. Vom zweiten „Cigno Nero“ in so kurzer Zeit, dem Ukraine-Krieg, ließ sich die internationale Einrichtungsszene aber nicht mehr davon abhalten, das Jubiläum zu begehen. Der Salone 2022 knüpfte in dieser Woche an die 2019er Auflage an und war wieder DAS globale Design-Festival, das dem Selbstverständnis der Italiener und vor allem der Mailänder entspricht – von den fehlenden chinesischen und russischen Gästen mal abgesehen. Einige Punkte fielen in den Vierteln und auf dem Messegelände ins Auge.
- Kriegsperspektiven: Messechefin Maria Porro brachte es gegenüber der Presse auf den Punkt. Ob man in Kriegszeiten einen Salone veranstalten dürfe? „Natürlich“, denn die internationale Design-Community müsse an einem Ort zusammenstehen. Sie feiert das Einrichten und damit das Leben an sich. Dennoch waren in den vergangenen Tagen unterschiedliche Grade der Betroffenheit festzustellen. Während die Osteuropäer tief verunsichert sind und auch die Deutschen, die lange durch eine Mauer in unterschiedlich geopolitische Blöcke eingeteilt waren, verstört sind, ist die Verunsicherung in Südwesteuropa nicht ganz so stark ausgeprägt. Und für außereuropäische Besucher ist der Krisenherd noch ein wenig weiter entfernt. Der Krieg war in den Tagen des Salone nicht vergessen, aber angesichts der Intensität und der Vielfalt der Eindrücke in Mailand ein wenig in den Hintergrund gerückt.
- True Pink! Dass der Krieg aber unterschwellig Einfluss auf das Design-Geschehen hat, zeigte die unangefochtene Trendfarbe Rosa, die mitunter auch in knallige Pink-Töne driftete. In unwirtlichen Zeiten wollen die Menschen die rosarote Brille aufsetzen. Es gibt Gefängniszellen mit rosafarben gestrichenen Wänden, weil der Farbton nachweislich deeskalierend wirkt, (was einige Farbforscher auf die Geborgenheit in der Gebärmutter zurückführen.) Und so waren nicht nur auffallend viele stilsichere Damen in Flamong-Farben gekleidet, auch Hadi Teherani überraschte im rosafarbenen Anzug.
Aber wir waren ja nicht wegen der Mode in Mailand, denn auch auf Möbeln macht Rosa bella figura bzw. impressione. Der absolute Kracher war sicherlich die Sonderedition „True Pink“ von USM. Der Auftritt im und vor dem Rossignol-Fahrradladen in Brera war sicher eine der meistfotografierten Inszenierungen in dieser Woche. Ebenfalls viel Pink gab es im Showroom von Schönbuch und in der Licht-Installation „Blank“ von Felice Limosani zu sehen.
- Oh Ikea: Die Einrichtungswelt war allerdings nur so lange rosarot, bis man den kleinen Stand des Verbandes der ukrainischen Möbelindustrie besuchte. Denn drei tapfere Frauen hatten sich auf eine tagelange Auto-Reise von Kiew nach Mailand gemacht, um ihre Industrie auf dem größten B2B-Event zu repräsentieren und zu vermarkten. Die Dringlichkeit der Präsenz liegt auch an Ikea. Denn der schwedische Konzern, der in der Via Tortona eine ausgelassene, bunte und demokratische Design-Party feiert, hat mit Beginn des Krieges alle Aufträge in der Ukraine gecancelt. Der Grund: Man möchte nicht das Leben der Arbeiter in den Fabriken riskieren, sollte es zu Angriffen kommen. Das ist fürsorglich und aller Ehren wert, nur dass das so gar nicht dem Willen der Ukrainer entspricht, wie Oksana Donska, CEO of B2B Fair FUBE konstatierte: „Die Ukrainer wollen arbeiten und ihre Wirtschaft stützen.“ Die annullierten Aufträge der Schweden seien dramatisch und in der Größenordnung nicht zu ersetzen, auch wenn man alles gebe, um an neue Aufträge zu kommen. Kein Zweifel: Der Krieg fordert auch von den Playern der Möbelbranche schwierige, sehr schwierige Entscheidungen.
- Everything’s sustainable: Das gilt auch für das nicht minder schwierige Thema Nachhaltigkeit. Wer heute nicht Sustainability zum Eckpfeiler seiner Marke macht, ist entweder ignorant oder fahrlässig – oder eine Mischung von beidem. Überall grünt es auf den Ständen und in den Image-Videos. Aber wer will die Fundiertheit aller Maßnahmen schon überprüfen können? Wiederverwertetes Plastik, CO2-neutrale Fertigung, Energie aus regenerativen Quellen, zertifizierte Hölzer… All das ist inzwischen eine Wissenschaft für sich.
Eindrücklich zu denken gegeben hat mir in diesem Zusammenhang das Gespräch mit Benny Hermansson (Foto), CEO von Gemla, der den ältesten Möbelhersteller Schwedens vor einigen Jahren zum Turnaround verholfen hat. Nun nimmt man den Skandinaviern ja Nachhaltigkeitsideen generell sehr gern ab, aber in diesem Fall war es so einleuchtend, weil der Gemla-Messestand lediglich aus einer blauen Rückwand mit Markenlogo und den Stühlen bestand, die in zwei Reihen von Spotlights bestrahlt wurden. Mehr nicht. Aussttellungs-Minimalismus. „Ist das denn wirklich nachhaltig, was wir hier machen? 200.000 Menschen jetten um die Welt, um riesige Standinstallationen zu sehen, die nach einer Woche größtenteils verschrottet werden“, so Hermansson.
- Pilze suchen: Und so zeigte Gemla auch, dass der Salone auch immer etwas von Pilzesuchen hat. Wer kennt die besten Plätze? Wer ist als erster auf dem Streifzug? Und wo stehen die schönsten Exemplare, die ja in ganz unterschiedlichen Vierteln gedeihen. Ich war angetan von der Pulpo L.O.V.E. Bank. Die Design-Editeure aus Weil am Rhein haben eine ehemalige Bankfiliale spektakulär eingerichtet. Herrlich verspielt war auch die Ausstellung „Design Variations“ mit 14 ausstellenden Marken in der philologischen Gesellschaft in der Via Clerici, wo Thonet ein Stuhlkarussell aufgebaut hatte. Und auch die Via Tortona war wieder eine Überraschungsmeile, insbesondere im Superstudio, wo sich das kleine ukrainische Label Noon Home präsentierte. Und auch wenn man in Mailand immer zu wenig Zeit hat: Den Salone Satellite mit den Nachwuchstalenten darf man sich nicht entgehen lassen. Die Sitzmöbel von Felicia Arvid sind einfach wunderbar einzigartig. Genau wie das afrikanisch-getriggerte Design von Lani Adeoye.
- Highlights: Meine persönlichen Favoriten waren die Stände bzw. Neuheiten von Midj (mit neuer Kollektion von Paola Navone), Zanat, Passoni, Calma, KFF (in Mintgrün), Nanimarquina (mit Stoff-Bergen), A lot of Brasil, Schock, Kartell (Phillippe Starck, „Papà Chair“) und die Sonderfläche „Design with Nature“ auf dem Messegelände.
Der Ginori-Showroom mit der neuen Kollektion des wunderbaren Briten Luke Edward Hall, der bei Groupies und Journalisten ziemlich gefragt war. Außerdem die „Bar-Celona“ mit einem typischen Gastspiel der katalanischen Metropole in Mailand. (Danke Ivan Granolla für die Preview.)
Der Archiproducts Store in der Via Tortona. Der Design-Talent-Wettbewerb „1&20“ vom Rat für Formgebung, ebenfalls in der Via Tortona. Und unbedingt: Die „Scatola Magica“ im Palazzo Reale, eine multimediale Show in der Zauberbox. - Trends: bunte, kräftige Farben, organische Formen, florale und verspielte Muster, Streifen, Comics und Illustrationen, Pastelltöne, Ton-in-Ton-Kombinationen, Schwarz (nicht nur in der Küche), Beton, Massivholz, neuartige, nachhaltige Materialien. Der skandinavische Minimalismus ist auf dem Rückzug.
- Eurocucina: Das war schon ein krachender Auftritt der globalen Küchen- und Geräte-Industrie, bei dem sich die deutschen Aussteller sehr gut in Szene setzten. Farblich gab es viele tiefe, beruhigende Blau-Töne zu sehen – so etwa bei Schock, Häcker und Schüller. Einen der schönsten Stände hatte Neff mit der Imitation einer stimmungsvollen italienischen Dorfszene mit Festtafel gebaut.
- Fluglotsen-Sciopero: Und dann gibt es natürlich auch die Banalitäten, die den Salone so unvergleichbar unterhaltsam machen. Natürlich haben sich die Fluglotsen mitten in der Salone-Woche zum Streik entschlossen. Basta! Flugausfälle verzögerten oder vereitelten sogar die Anreise vieler weiterer Gäste. Denjenigen, die abreisen wollten, wurde es ebenfalls nicht einfach gemacht. Vom Messegelände bis zum Abheben des Fliegers hat es acht Stunden gedauert – mit Hunderte Meter langen Schlangen vor der Security und leichten Anzeichen von Chaos. Irgendwie muss es ja so sein. Nur wenn man völlig durchgenudelt zu Hause ankommt, hat man den Salone mit Bravour bewältigt.
- Registrarsi per favore: Von einer Unsitte sollten die Aussteller jedoch schnell wieder Abstand nehmen: Die lästigen Registrierungen per QR-Code. An vielen Stellen wurde man dazu aufgefordert, sich mit dem Ausfüllen eines Kontaktdatenformulars Zugang zu Showrooms und Ausstellungen zu verschaffen. Beim ersten Mal ist das ja noch ganz neu und schick, aber wer an einem Tag fünf Mal seine Daten in minutiöse Formulare auf dem Handy eingegeben hat, braucht Geduld und viel Fingerspitzengefühl. Und dann darf die Frage erlaubt sein, warum die Empfangstresen teilweise personell so gut besetzt sind, wenn die Gäste sich selbst registrieren. Wie gesagt, nur eine Banalität! Aber auch die machen den Salone del Mobile aus. Ich registriere mich jetzt schon für das nächste Mal.