Die brasilianische Möbelindustrie konnte während der Pandemie ihre Marktanteile im globalen Möbel-Business ausbauen. Der Dreiklang aus Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und dem eigenständigen brasilianischen Design findet immer mehr Interessenten, wie Irineu Munhoz, der Präsident des brasilianischen Herstellerverbands ABIMÓVEL, im Gespräch mit Home.Made.Storys. erklärt.
Home.Made.Storys.: Lieber Herr Irineu Munhoz, wie ist die aktuelle Lange des brasilianischen Einrichtungshandels aktuell?
Irineu Munhoz: Aktuell erleben wir in Brasilien und weltweit eine Verlangsamung des Möbelkonsums. Nach dem viel beschworenen Boom des Sektors ab der zweiten Hälfte des Jahres 2020 hat die Nachfrage im vergangenen Jahr an Kraft verloren. Langfristig betrachtet bedeutet dies jedoch noch keinen Rückgang, sondern eine erneute Stabilisierung der Branche. Die Zahlen für 2022 sind in einigen Bereichen sogar höher als vor der Pandemie, was sich auch in den Wertsteigerungen von Wohnhäusern und Möbeln widerspiegelt, die die brasilianischen Verbraucher in den letzten zwei Jahren erlebt haben.
Was den Einzelhandel mit Möbeln und Haushaltsgeräten auf dem brasilianischen Markt anbelangt, so haben sich die Margen in dieser Kategorie zum Ende des ersten Quartals 2022 deutlich erholt. Damit ging das im Vorjahresvergleich aufgelaufene Minus von -12,5 Prozent bis Februar auf -6,5 Prozent bis März zurück. Das deutet auf einen moderateren Rückgang hin als zunächst befürchtet. Betrachtet man die Ergebnisse der vergangenen Jahre, haben wir jetzt eine realistischere Vergleichssituation, die weniger von der sozialen Isolation und Lockdowns geprägt ist. Diese haben nämlich nicht nur dafür gesorgt, dass die Familien zu Hause blieben, sondern auch verstärkt in die Einrichtung der eigenen vier Wände investiert wurde. Der Einzelhandel mit Möbeln und Haushaltsgeräten wuchs im März 2022 um 6,7 Prozent gegenüber dem gleichen Monat des Jahres 2021. Für den Anstieg war vor allem das Möbelsegment verantwortlich. Nach Angaben des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik verzeichneten die Möbelverkäufe in diesem Monat ein Wachstum von 10,1 Prozent.
Home.Made.Storys.: Und wie beschreiben Sie die Situation der brasilianischen Möbelindustrie?
Irineu Munhoz: Als sechstgrößter Möbelproduzent der Welt, der in 172 Länder auf allen fünf Kontinenten exportiert, hat die brasilianische Industrie nicht nur ihre internationalen Aktivitäten ausgeweitet – die Exporte von Möbeln und Matratzen sind im letzten Jahr um rund 50 Prozent gestiegen und haben damit das Niveau vor der Pandemie übertroffen –, sondern auch stark in Technologie und die Verbesserung von Produktions- und Organisationsprozessen investiert. Allein im Jahr 2021 betrug der Investitionszuwachs in der nationalen Möbelindustrie 176 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Es ist davon auszugehen, dass die gesamte Branche mit dem Tempo, das an der Spitze zu beobachten ist, Schritt halten wird. Laut dem letzten monatlichen Konjunkturbericht „Conjuntura de Móveis“ von ABIMÓVEL stieg die brasilianische Produktion von Möbeln und Matratzen im Februar 2022 gegenüber dem Januar um 2,7 Prozent.
Das Produktionsvolumen in den ersten beiden Monaten dieses Jahres lag 30,7 Prozent unter dem des gleichen Zeitraums 2021, als die Möbelbranche noch eine durch soziale Isolation ausgelöste starke Nachfrage verzeichnete. Betrachtet man jedoch das kumulierte Ergebnis der letzten 12 Monate – mit dem allmählichen Wegfall temporärer Effekte, wie die Auswirkung der Pandemie auf das Verbraucherverhalten –, so ergibt sich ein stabileres Bild.
Die Umsätze der brasilianischen Möbelindustrie stiegen im Februar um 1,9 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Aber es gibt auch Probleme. Die anhaltende Materialknappheit sowie hohe Rohstoffpreise stellen die brasilianische Möbelindustrie immer wieder vor Herausforderungen. Deshalb sucht diese aktuell nach innovativen und nachhaltigen Wegen, um die Produktionskapazitäten, die Lagerbestände und – was besonders wichtig ist – das Preisniveau mit zufriedenstellenden Margen für Hersteller und Verbraucher aufrechtzuerhalten.
Home.Made.Storys.: Gibt es noch Auswirkungen der Pandemie für die brasilianische Möbelbranche und die Wirtschaft generell?
Irineu Munhoz: Wie bereits erwähnt, sind die Unterbrechung der Lieferketten und das damit verbundene Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage sicherlich die Auswirkung, die die Möbelindustrie in Brasilien immer noch am meisten spürt. Dazu kommen logistische Schwierigkeiten, die den Außenhandel behindern: vom Mangel an Containern bis hin zu physischen Beschränkungen sowie einem gestiegen Währungsrisiko gegenüber Märkten, die in der Möbelindustrie eine wichtige Rolle spielen. Hier stimmt uns der allmähliche Rückgang derartiger negativer Meldungen seit dem zweiten Quartal 2021 zunehmend optimistischer.
Dennoch gibt es weiterhin Probleme, die unsere Unternehmen zu spüren bekommen. Dazu gehören hohe Zinssätze, eine schwierige Transportlogistik sowie eine steigende Inflation, die den Konsum im Land hemmen. Diese Entwicklung betrifft aber nicht nur Brasilien und ist in allen großen Volkswirtschaften weltweit und in praktisch allen Produktionsketten zu beobachten. Um dem entgegenzutreten, arbeiten wir natürlich ständig gemeinsam mit Zulieferern und Herstellern an Lösungen, um sowohl das Angebot zu erweitern als auch die Preise stabil zu halten.
Home.Made.Storys.: Von wie vielen Betrieben welcher Größen sprechen wir eigentlich?
Irineu Munhoz: Die brasilianische Möbelindustrie besteht aus rund 18.300 Unternehmen, die 273.300 direkte und indirekte Arbeitnehmer beschäftigen. Im Jahr 2021 hat die Möbelindustrie sehr aussagekräftige Leistungsdaten vorgelegt. Dabei hervorzuheben sind die Produktion von 421,24 Millionen Möbelstücken, von denen 78,6 Prozent auf kleine Unternehmen entfallen. Die Exporte von konfektionierten Möbeln und Matratzen beliefen sich im vergangenen Jahr auf 983,3 Millionen US-Dollar.
Home.Made.Storys.: Die Möbelimporte aus Asien haben sich für die Europäer enorm verteuert. Kann Brasilien seine Exportaktivitäten nach Europa nun intensivieren?
Irineu Munhoz: Der Europäische Markt birgt für uns großes Potenzial. Allerdings sind wir uns auch darüber im Klaren, dass brasilianische Unternehmen für einen Zugang zum europäischen Markt einiges an Exporterfahrung mitbringen müssen, da es sich eine besondere Region handelt, die ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit erfordert und eine hohe Nachfrage aufweist. Dies gilt besonders für Produkte, die einen hohen Grad an Technisierung und Industrialisierung in der Herstellung benötigen.
Deutschland zum Beispiel ist ein attraktiver Markt für große und mittlere brasilianische Unternehmen. Möbelimporte nach Deutschland sind in den letzten Jahren auf einem äußerst positiven Niveau geblieben. Im Jahr 2020 wurden 43,8 Prozent des Bedarfs an neuen Möbeln und Matratzen durch Importe gedeckt, was einem Anstieg von 6,1 Prozent gegenüber 2016 entspricht.
Der britische Markt gehört ebenfalls zu den größten Möbelimporteuren, insbesondere von Holzmöbeln und Polstermöbeln aus Brasilien. Davor liegen noch die Vereinigten Staaten, die der absolute Spitzenreiter bei der Einfuhr brasilianischer Möbel sind. Seit kurzem ist auch Chile ein wichtiger Exportmarkt für uns geworden.
Allgemein lässt sich sagen, dass brasilianische Produkte aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Preise in Europa sehr gefragt sind. So konnten wir beobachten, dass brasilianische Unternehmen in den letzten drei Jahren ihre Präsenz in Frankreich, Spanien und Portugal ausbauen konnten.
Weitere Möglichkeiten bieten sich der brasilianischen Möbelindustrie in Europa in den Bereichen Qualität und Nachhaltigkeit. Der europäische Markt ist bestrebt, ökologische Lösungen zu etablieren und recycelte Materialien sowie nachhaltige natürliche Rohstoffe wie Holz, Naturfarben und Leder zu verwenden, die in Brasilien bereits weit verbreitet sind. Diese Faktoren dürften neben dem branchenweit bekannten brasilianischen Design zur erfolgreichen Positionierung in diesem Zielmarkt beitragen.
Die brasilianische Möbelindustrie ist eine der Branchen mit den meisten Nachhaltigkeitszertifizierungen. Etwa 98 Prozent der exportierenden Unternehmen verfügen über eine Art von Zertifizierung. Außerdem ist der Möbelsektor Teil des „Global Compact“ der Vereinten Nationen und folgt dessen Nachhaltigkeitsleitfaden.
Zudem ist brasilianisches Design international absolut wettbewerbsfähig und in irgendeiner Form auf allen großen Weltmärkten vertreten. Dabei kommt der größte Einfluss nicht von außen, sondern aus der brasilianischen Modernismus-Bewegung selbst. Diese wurde in den letzten 15 Jahren von großen nationalen und vor allem auch internationalen Fachleuten wiederentdeckt. Dadurch haben die nationale Industrie und brasilianische Hersteller weltweite Aufmerksamkeit erfahren. Die Wettbewerbsfähigkeit brasilianischen Designs liegt also in der Kreativität seiner Designer, in der kulturellen Identität des Landes und in seinem Ressourcenreichtum.
Home.Made.Storys.: In Europa wird Eichenholz gerade teuer und knapp. Gibt es Alternativen aus Brasilien?
Irineu Munhoz: Mit mehr als 20.000 einheimischen Holzarten ist brasilianisches Tropenholz zweifellos das große Zugpferd der nationalen Industrie und des Designs, mit seinen unverwechselbaren physischen und visuellen Qualitäten, die bei unseren Möbeln immer wieder hervorstechen.
Neben der nachhaltigen Verwendung von Tropenhölzern spielt die industrielle Verwendung von Holz aus Aufforstungen, wie Pinus und Eukalyptus, die als erneuerbare und wiederverwertbare Materialien genutzt werden, eine wichtige Rolle. Der brasilianische Baumkultivierungssektor umfasst mehr als 9,55 Millionen Hektar.
Darüber hinaus stützt sich die brasilianische Möbelindustrie auf Technologien, die es ermöglichen, durch spezielle Oberflächen verschiedene Materialien und einzigartige Ressourcen wie einheimische Hölzer, Texturen und natürliche Elemente wie Gestein und Mineralien sowie Leder und Schussfäden nachzubilden und die Farbenvielfalt und organische Muster zu erhalten, die für Brasilien so charakteristisch sind.
Genau diese Vielfalt macht den innovativen und wettbewerbsfähigen Charakter der Unternehmen und Produkte aus, die im Rahmen des brasilianischen Projeto Setorial Brazilian Furniture, einer Initiative von ABIMÓVEL und ApexBrasil, weltweit gefördert werden.
Home.Made.Storys.: Wo können europäische Händler brasilianische Möbel entdecken?
Irineu Munhoz: Mit dem Projeto Setorial Brazilian Furniture haben wir gemeinsam mit ApexBrasil, der brasilianischen Agentur zur Förderung von ausländischen Direktinvestitionen, eine Initiative ins Leben gerufen, deren Ziel es ist, die brasilianischen Möbelindustrie prominenter am internationalen Markt zu positionieren. Dies geschieht durch eine Reihe strategischer Maßnahmen sowie einem international ausgerichteten Ansatz, der auf den drei Säulen Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und dem für Brasilien charakteristischen Design basiert.
Mehr als 100 Unternehmen sind an dem Projekt beteiligt. Dadurch bekommen sie Zugang zu wettbewerbsrelevanten Marktinformationen, internationalen Messen, Käufer- und Verkäuferprojekten, einer Imagekampagne, einem Designprogramm und weiteren Auslandsaktivitäten.
Die brasilianische Möbelindustrie ist derzeit in 172 Ländern auf allen Kontinenten vertreten und nimmt an den größten nationalen und internationalen Messen des Sektors teil. Dies stärkt die Arbeit und die Präsenz der brasilianischen Möbelindustrie. Derzeit sind wir der sechstgrößte Produzent und der 28. größte Exporteur der Welt.
Ein gutes Beispiel unserer Arbeit sind unsere diesjährigen Aktivitäten in New York. Dort hat ApexBrasil sieben Möbelmarken auf den Pavillons der ICFF – The International Contemporary Furniture Fair – der größten Messe für zeitgenössische Möbel in Nordamerika – eine Bühne verschafft. Zusätzlich wurde eine Ausstellung unter dem Namen „CASA BRASIL New York 2022“ organisiert, bei der 63 brasilianische Unternehmen, darunter 16 Möbelhersteller und 21 Designer/Designstudios ihre Arbeit vorstellen konnten.
In Europa wird Brasilien zum zehnten Mal auf dem Salone del Mobile in Mailand und zum siebten Mal auf dem Fuorisalone vertreten sein und das Beste der brasilianischen Möbel- und Designindustrie präsentieren. Hier werden 39 Unternehmen und 24 Designer das Land vertreten. In den letzten 15 Jahren haben das brasilianische moderne Design und seine großen modernistischen Autoren wie Joaquim Tenreiro, José Zanini Caldas, Geraldo de Barros, Sergio Rodrigues sowie Oscar Niemeyer und Lina Bo Bardi in der internationalen Szene Anerkennung gefunden. Mittlerweile sind sie auf allen weltweiten Möbel- und Designmessen fast schon obligatorisch vertreten. In jüngster Zeit hat auch das zeitgenössische Design der Designer Fernando und Humberto Campana, Fernando Jaeger, Jader Almeida, Arthur Casas, Dimitri Lociks, Etel Carmona und anderen internationale Preise gewinnen können und schöne Ausstellungen gehabt. Als Vertreter der brasilianischen Möbelbranche erfüllt uns dieser Erfolg mit großem Stolz.