In Brasilien spielt die heimische Möbelindustrie eine wichtige Rolle – sowohl in der Produktionskette als auch für die Gesamtwirtschaft. Cândida Cervieri ist Geschäftsführerin des brasilianischen Verbands der Möbelhersteller, Abimóvel, und steht für die Interessen der Mitglieder ein. Wie sich der dortige Möbelmarkt derzeit entwickelt, welche Herausforderungen die Corona-Pandemie stellt, wie die brasilianische Möbelindustrie mittlerweile auf dem weltweiten Markt agiert und was das Besondere an den Produkte ist, hat Cândida Cervieri Home.Made.Storys. in einem Exklusiv-Interview verraten.
Home.Made.Storys.: Frau Cervieri, erläutern Sie bitte, wen Sie repräsentieren…
Cândida Cervieri: Der brasilianische Verband der Möbelhersteller, Abimóvel – eine nationale Einrichtung, in der ich derzeit als Geschäftsführerin tätig bin –, vertritt seit mehr als vier Jahrzehnten die Interessen der brasilianischen Möbelbranche und kümmert sich um Förderungen für diese Industrie. Mit einer zielgerichteten Agenda versuchen wir, durch unsere guten Beziehungen zur brasilianischen Bundesregierung, dem Nationalkongress, der Wirtschaft und anderen nationalen sowie internationalen Institutionen, positive Ergebnisse für unsere Unternehmen auf dem in- und ausländischen Markt zu sichern. Deshalb arbeitet Abimóvel ständig an verschiedenen Strategien, um brasilianische Möbel, die Industrie, nationale Marken, Fachleute, das typisch brasilianische Design sowie Nachhaltigkeitsthemen in vielen verschiedenen Märkten rund um den Globus zu positionieren.
Home.Made.Storys.: In welcher Lage befindet sich die brasilianische Einrichtungsbranche insgesamt?
Cândida Cervieri: Die Möbelindustrie in Brasilien spielt sowohl in der Produktionskette, in die sie eingegliedert ist, als auch in der Gesamtwirtschaft eine wichtige Rolle. Brasilien ist der sechstgrößte Möbelproduzent weltweit und die Möbelindustrie mit Blick auf die Beschäftigungszahlen die achtgrößte Produktionskette in Brasilien. Mit anderen Worten, die Branche ist produktions- und arbeitsintensiv, repräsentiert 1,2 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts und exportiert in mehr als 120 Märkte.
In Bezug auf den Inlands- und Auslandsmarkt hatten wir für unsere Branche und den Einzelhandel pandemiebedingt zunächst einen starken Rückgang der Verkäufe und der Produktion, gefolgt von einer Erholung in den folgenden zwei Jahren, vorausgesagt. Diese Einschätzung hat sich bisher bestätigt. Selbst mit einem leichten Abschwung in den letzten Monaten, nach einem historischen Boom bei Möbeln und Bettwaren (Matratzen) in der zweiten Jahreshälfte 2020, bleiben die Aussichten zufriedenstellend. Insgesamt weisen die Zahlen zwischen Januar und April 2021 einen Anstieg des Volumens um 24,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf.
Auch brasilianische Möbelexporte erzielen weiterhin überraschend gute Zahlen. So beträgt der Zuwachs der internationalen Verkäufe von Januar bis Mai 2021 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2020 72,9 Prozent. Dieses Ergebnis zeugt von einer Erholung im Vergleich zu den starken Einbrüchen im zweiten Quartal 2020, die eine Folge verschärfter physischer und logistischer Restriktionen weltweit waren. Dies wird auch durch die Exportergebnisse in den letzten 12 Monaten, also von Mai 2020 bis Mai 2021, bestätigt, die ein Plus von 34,3 Prozent aufweisen.
Home.Made.Storys.: Hat es besondere Herausforderungen durch die Corona-Pandemie für die brasilianische Möbelindustrie gegeben?
Cândida Cervieri: Es ist unbestreitbar, dass die Pandemie große Herausforderungen für die brasilianische Möbelindustrie mit sich gebracht hat. Das größte Problem war zunächst die Beeinträchtigung der Arbeitsabläufe in unseren Industrieparks und im Einzelhandel aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der ersten Coronavirus-Welle im Land. Bald darauf konnten wir beobachten, wie die soziale Isolation die Aufmerksamkeit der Verbraucher auf die eignen vier Wände lenkte, was sich diesmal positiv auf die Möbelbranche auswirkte und zu einem deutlichen Nachfrageanstieg führte. Mit der Wiederaufnahme der Aktivitäten und dem Boom beim Kauf von Möbeln und Bettwaren bekamen wir jedoch schnell die ersten Auswirkungen unterbrochener Versorgungsketten zu spüren. Unsere Fabriken hatten mit großen Problemen bei der Versorgung mit Rohstoffen und Produktionsmitteln zu kämpfen. In einigen Bereichen dauern diese noch bis heute an.
Trotz der Herausforderungen gehörte die Möbelbranche zu denjenigen in Brasilien, die mit Blick auf freie Arbeitsplätze in den ersten Monaten des Jahres 2021 eine der positivsten Bilanzen verzeichnen konnte. Darüber hinaus untermauern das Marktverhalten insgesamt und die Zahlen für das laufende sowie das vergangene Jahr die Widerstandsfähigkeit der nationalen Möbelindustrie.
Home.Made.Storys.: Gibt es aktuell Herausforderungen in Bezug auf die Lieferketten?
Cândida Cervieri: Wie bereits erwähnt, führte der Boom bei den Möbelverkäufen in Verbindung mit den aktuellen logistischen Einschränkungen, einem historischen Höhenflug des US-Dollars und den hohen Preisen für internationale Gütertransporte, zu Engpässen und Preissteigerungen bei Rohstoffen und Produktionsmitteln.
Allerdings sollte an dieser Stelle angemerkt werden, dass diese Entwicklung nicht nur Brasilien, sondern auch alle anderen wichtigen internationalen Märkte und praktisch alle Produktionsketten betrifft. Um dem entgegenzuwirken, arbeiten wir kontinuierlich gemeinsam mit Lieferanten und Herstellern an Lösungen. Dabei geht es darum, sowohl die Zulieferung zu erweitern als auch die Preise für Materialien auszubalancieren. Aktuell lässt sich beobachten, dass der Nachfragerückstau bereits wieder abnimmt und sich die Zahlen wieder stabilisieren.
Home.Made.Storys.: Was sind momentan die größten Einflüsse auf brasilianisches Möbel-Design?
Cândida Cervieri: Brasilien hat eine ganz besondere Identität in Sachen Design. Diese Identität wird geprägt durch den kulturellen Hintergrund und die Vielzahl materieller Ressourcen im Land. Ebenso spielen die typischen Produktionsweisen der verschiedenen Regionen des Landes eine Rolle – ein Erbe der Kreativität und Vielfalt der brasilianischen Bevölkerung. In den letzten Jahren haben sich brasilianische Möbel weltweit hervorgetan, gerade wegen der Aufnahme von Elementen, die einzigartig und eigen sind. Zu nennen wären hier zum Beispiel die mehr als 20.000 Arten einheimischer Hölzer oder kulturelle Elemente wie Spitze und Schuss, Leder und südländische Wolle. Genau diese Pluralität ist es, die das Innovations- und Wettbewerbspotential der brasilianischen Möbelindustrie auszeichnen. Abimóvel bietet im Rahmen des Brazilian Furniture Project aktuell das „Industry-Integrated Design Program“ an. Dabei arbeitet eine Gruppe renommierter brasilianischer Designer gemeinsam mit Unternehmen an der Entwicklung von Produkten und Kollektionen mit hohem Mehrwert, die gleichzeitig den wichtigsten weltweiten Trends und Marktstrategien folgt. Gefördert wird das Programm von Apex-Brasil, der brasilianischen Agentur für Handels- und Investitionsförderungen.
Home.Made.Storys.: Was sind bekannte Namen des brasilianischen Designs?
Cândida Cervieri: Brasilianisches Design und Fachleute genießen seit einiger Zeit immer mehr nationale und internationale Anerkennung. Darunter einige bekannte Persönlichkeiten des zeitgenössischen Designs, wie die preisgekrönten Designerinnen Claudia Moreira Salles, Lia Siqueira und Etel Carmona. Des Weiteren wären unter anderem Carlos Motta, Dimitri Lociks, Bruno Faucz hervorzuheben.
Ein Beispiel für die wachsende Anerkennung brasilianischen Designs auf dem globalen Markt sind internationale Erfolge wie der iF Gold Award, die höchste Auszeichnung des größten Designwettbewerbs der Welt, der in diesem Jahr an den Weinständer Cacho ging, ein Entwurf von Choque Design für Móveis James. Das Unternehmen ist Teil des Brazilian Furniture Project. Das Horizonte Sideboard, entworfen von Lia Siqueira, von Azul Arquitetura, für Etel, ein weiteres Unternehmen, das mit dem Projekt verbunden ist und ein regelmäßiger Gewinner der iF Design-Auszeichnungen, wurde ebenfalls in der Kategorie Produkt 2021 hervorgehoben. Errungenschaften, die aus den kreativen Fähigkeiten brasilianischer Designer stammen, kombiniert mit der gekonnten Nutzung verschiedener Materialien im Möbeldesignprozess.
Home.Made.Storys.: Gibt es einen bestimmten brasilianischen Designstil und wie hat sich dieser über die vergangenen Jahre entwickelt?
Cândida Cervieri: Brasilianisches Tropenholz spielt immer noch eine wichtige Rolle bei nationalen Designs. Auf der internationalen Bühne haben in den letzten 15 Jahren die brasilianische Modern-Design-Bewegung und ihre großen modernistischen Vertreter, wie Joaquim Albuquerque Tenreiro, José Zanini Caldas und Geraldo de Barros weltweite Anerkennung erlangt. Ihre Kreationen dürfen auf sämtlichen Möbel- und Designmessen weltweit nicht mehr fehlen.
In jüngerer Zeit haben auch die aktuellen zeitgenössischen Designer wie Fernando und Humberto Campana, Fernando Jaeger, Jader Almeida, Arthur Casas, um nur einige zu nennen, diverse internationale Auszeichnungen erhalten und an großartigen Ausstellungen rund um den Globus teilgenommen. Unser Land und unsere Branche erfüllt das mit sehr viel Stolz.
Home.Made.Storys.: Wie international ist brasilianisches Design? Woher kommen die größten Einflüsse?
Cândida Cervieri: Heute können wir sagen, dass brasilianisches Design völlig international und in allen bedeutenden Märkten präsent ist. Der größte Einfluss kommt allerdings nicht von außen. Die brasilianische modernistische Bewegung selbst, die in den letzten 15 Jahren von großen nationalen und vor allem internationalen Fachleuten wiederentdeckt wurde, und die damit assoziierten Marken und Designer standen aktuell immer wieder im Rampenlicht. Die Wettbewerbsfähigkeit brasilianischen Designs liegt also in der Kreativität seiner Designer, in der kulturellen Identität des Landes sowie in seinem Reichtum an Rohstoffen.
Home.Made.Storys.: Als ich selbst vor einigen Jahren in Brasilien war, hatte ich den Eindruck, dass der brasilianische Einrichtungsmarkt sehr abgeschottet und autark ist, was auch daran liegt, dass die Exportquote sehr niedrig ist. Ist diese Einschätzung richtig?
Cândida Cervieri: Dieser Zustand hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verändert. Wie bereits erwähnt ist Brasilien der sechstgrößte Möbelproduzenten der Welt. Eine herausragende Position auf einem globalisierten Markt, der von erfolgreichen Unternehmen verlangt, in Innovation, Design, Technologie, nachhaltiges Management und neue Produkte zu investieren. Die Internationalisierung brasilianischer Unternehmen schreitet voran und brasilianisches Möbeldesign genießt weltweite Anerkennung. Unsere Produkte werden in mehr als 120 Märkte exportiert. In diesem Sinne zielen Initiativen wie das von Abimóvel und Apex-Brasil geförderte Brazilian Furniture Project darauf ab, die brasilianischen Möbel- und ihre Designpräsenz auf der ganzen Welt durch kommerzielle wirtschaftliche Förderung, Wettbewerbsfähigkeit und Marktwissen zu stärken.
Home.Made.Storys.: Sehen Sie ein Potenzial für brasilianisches Design auf dem europäischen Markt?
Cândida Cervieri: Brasilianisches Design, vor allem das „moderne“, ist in Europa bereits sehr bekannt und wir glauben, dass es weiteres Potenzial für Wachstum gibt. Brasilianisches Holz bezaubert und wird auf der ganzen Welt extrem geschätzt. Ganz zu schweigen von Leder, Schuss, Fäden, Metallen und vielen anderen Rohstoffen, die das „Brasilianische“ in ihren einzigartigen Farben, Formen und Designs ausdrücken.
Home.Made.Storys.: Wie kann man mit dem brasilianischen Markt Kontakt aufnehmen?
Cândida Cervieri: Apex-Brasil verfügt mit seinen sektorspezifischen Projekten über eines der wichtigsten Instrumente für die Förderung des brasilianischen Exports, für die Internationalisierung unserer Unternehmen und das Anwerben ausländischer Investitionen. Als Teil dieser sektoriellen Projekte bietet das Brazilian Furniture Project der nationalen Möbelindustrie verschiedene Programme und Aktivitäten, wie die Teilnahme an internationalen Messen, Handelsvertretungen, Käufer-, Verkäufer- und Imageprojekte. Zusätzlich gibt es noch Marktforschungsinstrumente, die Brasilien näher an die Schlüsselmärkte bringen sollen und umgekehrt.
Abimóvel steht für Proaktivität und Qualität, was sich im geförderten Business-Volumen der vergangenen Jahre widerspiegelt. Es ist gelungen, Hunderten von Unternehmen wichtige Märkte zu erschließen und an Top-Veranstaltungen wie der Mailänder Designwoche, ICFF, teilzunehmen, sowie wichtige Auszeichnungen wie den iF Design Award zu gewinnen. Wir sehen uns als eine direkte Brücke zwischen dem internationalen Markt und dem Möbelsektor in Brasilien. Darüber hinaus stehen wir auch denjenigen zur Verfügung, die etwas mehr über unsere Unternehmen, Fachleute, Produkte und Dienstleistungen wissen wollen.
Home.Made.Storys.: Wohin wird sich die brasilianische Branche in den nächsten fünf Jahren entwickeln?
Cândida Cervieri: Die Möbelindustrie in Brasilien bemüht sich um die erfolgreiche Integration von Designern und anderen Sektoren, wie Textilien und Fasern, Leder, Stahl, Komponenten sowie nachhaltigen Materialien, die bereits Teil der Produktionskette sind. Ziel ist es, ein Umfeld zu schaffen, das zu größerer Kreativität, Produktvielfalt und Diversifizierung anregt.
In den letzten Jahren haben sich brasilianische Möbel weltweit großer Beliebtheit erfreut, gerade weil sie diese Elemente kombiniert haben, die gleichzeitig so vielseitig wie einzigartig sind – ein Aushängeschild des brasilianischen Geistes. Es sind diese Eigenschaften, die unsere Kultur definieren, uns ein internationales Profil verleihen und von brasilianischen Unternehmen mit dem Rest der Welt geteilt werden.