Das tat allen wieder gut – raus aus dem (Home-)Office, rein in die Messe und ran an die Ware. Die Freude über ein persönliches Wiedersehen nach den Pandemie-Monaten war an allen Messe-Orten zu spüren. Das galt erfreulicherweise auch für viele internationale Gäste, die seit langem keine Sourcing-Veranstaltungen mehr besuchen konnten. Und trotzdem konnte es ja gar nicht so unbeschwert zugehen. Denn dafür sind die Turbulenzen entlang der gesamten Wertschöpfungskette doch viel zu heftig. Worum es in den vergangenen Tagen ging, habe ich versucht, in zehn Punkten festzumachen.
1: Das fehlende Fundament: Nach anderthalb Jahren Pandemie hat die Branche ihre Bezugsgrößen verloren. Weder der V-Verlauf im vergangenen Jahr noch die vom langen Winter-Lockdown geprägte diesjährige Konjunktur lassen sich miteinander vergleichen. Also schauen die Zahlen-Experten auf das „normale“ Jahr 2019, was wohl die sinnvollste Maßnahme ist. Das hilft aber immer noch kein bisschen weiter, um zu prognostizieren, wie und auf welcher Basis sich das Jahr 2022 entwickeln wird. Da gibt es fast so viele Meinungen, wie es Aussteller auf den Herbstmessen gibt. Der größte Konsens lässt sich wohl so zusammenfassen: Die Nachfrage hält an, die Unwägbarkeiten entlang der Wertschöpfungskette aber auch. Unter allen Preissegmenten leidet der Discount am meisten, weil die Renditen schon dramatisch abgeschmolzen sind. Dieter Hilpert hat das für die Bega-Gruppe mit zuletzt 525 Mio. Euro Umsatz als Problem erkannt und zu einer Ertrags-Trendumkehr im kommenden Jahr aufgerufen.
2: Handel und Industrie im Clinch: Die Totenstille, die sich in einige Händler-Lieferanten-Beziehungen eingeschlichen hat, ist eigentlich eher aus der Lebensmittelbranche bekannt. Wenn Edeka und Unilver miteinander streiten, herrscht drei Monate Schweigen, bevor eine Partei zuerst zuckt. In der Möbelbranche ist das in diesem Umfang neu und wäre ohne das Bamberger Urteil kaum möglich gewesen. Laut VDM sei damit eindeutig festgestellt worden, dass der unter dem Begriff „Konventionalstrafen“ eingeforderte Schadensersatz unzulässig ist. Dieses Urteil hatte das Selbstbewusstsein der Industrie gestärkt – bei Rauch, Forte und anderen in ganz besonderem Maße, was teilweise Vertragskündigungen nach sich gezogen hatte, wenn der Handel das Urteil anders interpretierte. Das wiederum führte dazu, dass die Händler ihre Einkaufszettel neu schreiben mussten, weil einige Kernlieferanten zur Herbstmesse nun mit einem roten X markiert waren. Das Ergebnis: Seit Jahren haben Erstaussteller keine so gute Chance mehr gehabt in Deutschland ins Geschäft zu kommen. Denn der Handel ist mehr oder weniger gezwungen, offen für Alternativen zu sein.
3. Bleibender (Ver)handlungsbedarf: Und eben weil so viele Geschäfte noch auf Eis liegen, gibt es noch Verhandlungsbedarf in den kommenden Monaten. Denn auch auf den Herbstmessen zeigte sich in toto, dass direkt vor Ort die Geschäfte zwar angebahnt, aber nicht immer gleich gemacht werden. Jetzt beginnt insbesondere im konsumigen Segment die Nacharbeit an den Modellen und den Preisen. Viele Hersteller, die versucht hatten, sich mit Preiserhöhungen so lange wie möglich zurückzuhalten, um dadurch weitere Marktanteile zu gewinnen, waren am Ende doch gezwungen, die Preise anzupassen. Weil auch solche Großkaliber wie Polipol das Aushungern des Wettbewerbs nicht durchhalten konnten, wurden die Karten für die Herbstmessen nochmal ganz neu gemischt – mit offenem Ausgang.
4. Dezentrale Messestruktur: Die Messelandschaft wird noch weitläufiger. Im Küchenbereich ist mit Kai Schäffers IDF34 eine veritable Adresse hinzugekommen, Nolte hat mit der neuen Ausstellung ein klares Statement gesetzt und die Überlegungen bzw. Absichten von Bora und Grohe aus der Area30 auszuziehen und eigene Showrooms einzurichten, sind bekannt. Im Küchenbereich macht das aus Herstellersicht durchaus Sinn. Denn die Händler versuchen aktuell, ihre Küchen- und Gerätelieferanten zu straffen. Der Hersteller versucht dementsprechend die Aufenthaltsdauer seiner Handelspartner zu erhöhen, was in einem eigenen Showroom mit Bewirtung und in angenehmer Atmosphäre – in den genannten Fällen in einem Neubau in Herford – natürlich gut gelingen kann.
Im Wohnbereich sieht das natürlich etwas anders aus, weil die Händler hier aufgrund der Vielzahl der Lieferanten Marktübersicht und Vergleichbarkeit benötigen. Und dafür braucht es zentrale Marktplätze, wie die Messe Ostwestfalen gezeigt hat. Für die imm cologne bietet sich nun die große Chance, der Branche zum richtigen Zeitpunkt ein Forum zu bieten, indem die Koelnmesse relevante Themen besetzt und neue, frische Formate bietet. Mehr über die Pläne für den Januar gibt es schon in der kommenden Woche auf der imm-cologne-365-Konzeptvorstellung in Köln.
5. Made in Europe klar im Vorteil: Natürlich standen die Lieferzeiten im Fokus – und wer schnelle Verfügbarkeiten garantieren kann, dem wurde die sprichwörtliche Bude eingerannt. Forte punktete mit der Ansage, jeden Artikel innerhalb von 30 Tagen liefern zu können (der Vorteil des eigenen Spanplattenwerks). Diese Karte konnte auch Composad aus Italien ziehen. Dann gibt es aber auch schöne Beispiele wie den Tisch-und-Stuhl-Spezialisten Moblibérica, der fast die gesamte Wertschöpfung in Spanien betreibt und keinerlei Versorgungsprobleme hat. Ebenfalls zu den Gewinnern durften sich die Türken zählen, die zur rechten Zeit in Bad Salzuflen mit einem Gemeinschaftsstand aufschlugen. Auf einmal sind sie doch wieder auf dem Radar der Einkäufer, nachdem sie jahrelang um deren Aufmerksamkeit gekämpft haben. Denn die dortigen Fabriken ermöglichen hohe Volumina ohne Logistik-Probleme – ein LKW aus Kayseri ist in 34 Stunden in Porta Westfalica (nur als Beispiel). Das Lohnniveau ist deutlich niedriger als in Osteuropa – laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft beträgt der Unterschied zwischen der Türkei und Polen knapp 100 Prozent. Nun muss es nur mit dem Design noch stimmen.
6. Raumgreifende Küchen: Keine neue Entwicklung, aber in der Vehemenz auffallend. Ganz gleich in welchem Segment – Nobilia, Nolte, Ballerina, Leicht und andere erobern die angrenzenden Wohnbereiche. Das sie produktionsbedingt dazu bestens in der Lage sind, überrascht niemanden. Aber nun stimmen auch die Designs immer häufiger. Ein Beispiel dafür ist die Kooperation von Ballerina mit dem Designer Michael Hilgers. Denn auf einmal kommen clevere, trendige Wohnlösungen für Aufbewahrung und Homeoffice von einem Küchenmöbelanbieter wie Ballerina. Dieses Selbstbewusstsein, den Wohnraum zu erobern, wird den Markt in den kommenden Jahren noch stark verändern.
7. Raus aus der Nerd-Nische: Es war auffallend, dass viele Erstaussteller und Erstbesucher aus digitalen Dienstleistungsbereichen auf den Herbstmessen unterwegs waren. Insbesondere Dirk Schroeder und Julia Greven haben mit der 360GradPlaza in der Messehalle 12 in Bad Salzuflen Pionierarbeit geleistet. Doch die ausbaufähige Frequenz auf dem Sonderareal zeigt vor allem eins: Die Fläche war hochspannend und kompetent kuratiert, aber das Spektrum der Digitalisierung ist leider noch immer ein Eliten-Thema. Es kommt Bewegung rein, aber langsamer als nötig wäre. Die Gefahr ist, dass die aktuellen Herausforderungen mit der Ware die wichtigen Projekte in der digitalen Infrastruktur überdecken, sodass diese wieder hinausgezögert werden. Hier kann man sich eigentlich immer nur wiederholen: Es wird sich rächen, Prozesse, Daten und Schnittstellen nicht kontinuierlich zu optimieren.
8. Auf dem Weg zur grünen Branche: Sicherlich keine Überraschung, dass das Thema Nachhaltigkeit – ähnlich wie die Digitalisierung – auch in der Home&Living-Branche in immer mehr Facetten zur Ausprägung kommt. Zurecht, denn wo ist der Einsatz von wertvollen Materialien schon so groß wie im Einrichtungsbereich? Deshalb weiß man gar nicht, wo man anfangen soll, die nachhaltigen, kreativen Maßnahmen und Markenauftritte zu erwähnen wie insgesamt natürlich die wunderbare Performance von Walden im Cube30, die „Sink Green“-Philosophie von Schock, die lebend-grünen Wände von Grønn, der „grüne Stahl“ von BSH, die Roadshow der „GrünerGriff“-Wertgemeinschaft oder die Verpackungs-Initiativen, die unter anderem darauf abzielen, den Einsatz von Styropor zu reduzieren.
Ein plastisches Beispiel, wie sehr wir Menschen mit unserem Konsumverhalten die Produktentwicklung beeinflussen, lieferte Leo Lübke im Rahmen der VdDP-Pressekonferenz: Während der Lockdowns ist weltweit der Rindfleisch-Konsum eigebrochen. Denn Entrecôtes und Filets werden vorzugsweise im Restaurant bestellt. (Für Schweinefleisch gilt im Übrigen das Gegenteil.) Daraus ist letztlich der Leder-Mangel entstanden – und der Impuls, sich verstärkt mit alternativen Materialien und Stoffen zu beschäftigen.
9. Wo sind die Fachkräfte? Die Szenarien waren düster. Der strukturelle Schaden, den die Pandemie verursacht, würde zu dauerhafter Kurzarbeit und Massenarbeitslosigkeit führen. Nun stellt sich der aktuelle Arbeitsmarkt dramatisch anders dar. Die Rohstoffpreise (Spanplatte +150 Prozent gegenüber Vorjahr) nehmen teilweise absurde Züge, an aber irgendwann wird sich jeder Nachfragezyklus auch wieder abschwächen. Die Logistikkosten insbesondere für Container-Ware steigen nur deshalb ins Unfassbare, weil der Oligopol aus internationalen Reedereien nun die Kampfpreise der vergangenen Jahre wettmachen möchte. Aber irgendwann wird sich auch diese Hausse wieder abschwächen, auch wenn mehr Transporte auf die Schiene kommen. Der Fachkräftemangel dagegen bleibt bestehen – in ganz Europa. Ob in den Nähereien von Leolux in den Niederlanden oder in den Produktionen in Polen, Ungarn oder dem Balkan. Überall wird auch Hochtouren gearbeitet – meistens im Zwei-Schicht-Betrieb. Doch neue Mitarbeiter, die den Engpass lösen könnten, sind nicht zu finden. Gerade in den Polstermöbelfabriken steht zudem ein Generationswechsel bevor, weil viele erfahrene Mitarbeiter in den Ruhestand gehen. Eine Initiative wie die Lehrfabrik Möbel trifft deshalb genau ins Schwarze. Der Engpass auf internationaler Ebene wird sich aber dadurch kaum entschärfen.
10. Das schönste Gerücht: Da passte doch jeder Baustein so gut zusammen, dass es eigentlich stimmen musste. Schließlich hegt und pflegt ja auch Otto heute noch die einstige Quelle-Marke Privileg. Insofern hätte es durchaus Sinn gemacht, wenn sich die Lutz-Gruppe die Volksmarke Alno einverleibt hätte, um in einer solchen Konstruktion letztlich auch ein Verhandlungs-Ass im Ärmel gegenüber der Küchenindustrie zu haben. Aber vielleicht war es auch nur ein Ablenkungsmanöver. Was der neue Markeninhaber Vierhaus nun mit Alno vorhat, hat sich mir auch nach den vielen Interviews in der Fachpresse noch nicht so ganz erschlossen. Aber vielleicht Lutz und Vierhaus…? Ach, Quatsch… Also auch da bleibt noch etwas in der Schwebe…
Das Gute an der Ungewissheit ist ja, dass eben noch nichts gewiss ist und sie sich gestalten lässt. Die Vielzahl der Möglichkeiten auf neue, digitale und alternative Arbeiten miteinander zu arbeiten, haben die Herbstmessen auf allen Ebenen gezeigt. Es kann also losgehen…
´